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Plötzlich auf der anderen Seite: eine Lehrerin im öbv

Titelbild Nilu

Die Initiative Seitenwechsel ermöglicht es Lehrkräften, für ein Jahr in einem Unternehmen neue Perspektiven für den Schulalltag zu gewinnen und Brücken zwischen Schule und Privatwirtschaft zu bauen. Nilufar Hedjazi, die seit zehn Jahren Deutsch, Geschichte und Berufsorientierung unterrichtet, hat heuer den Schritt gewagt und arbeitet ein Jahr lang im öbv mit. Im Interview verrät sie uns, was sie dabei genau macht und wie sich ihr Alltag im Unternehmen von dem in der Schule unterscheidet.

Was war dein erster Eindruck vom öbv? Gibt es etwas, das dich am öbv und der Arbeit hier überrascht hat?

Am Anfang habe ich ständig Vergleiche zur Schule gezogen. Es ist eigenartig: Obwohl ich in den letzten Jahren die Hektik und den Stress in der Schule immer mehr als Belastung empfand, war es genau das, was ich in den ersten Wochen vermisste. Wiederholungsprüfungen, Pädagogische Konferenzen, einfach die gewohnte Routine – die ersten Wochen in der Schule gleichen der Prater-Attraktion „Space Shot“: Du wirst mit Höchstgeschwindigkeit von 0 auf 100 in die Höhe geschossen und bist nach wenigen Tagen wieder ferienreif. All das war plötzlich nicht da und fehlte mir zu Beginn ein wenig.

Eine Umstellung beim öbv war auf jeden Fall die Erfassung meiner Arbeitszeit. Ich war es nicht gewohnt, mich beim Betreten des Büros einzuloggen, deswegen habe ich in den ersten Wochen immer wieder darauf vergessen. Auch die Vereinbarung von Lunch-Dates, um mit einzelnen Kolleg*innen in der Mittagszeit ein wenig Zeit zu verbringen, ist bis heute für mich gewöhnungsbedürftig. In der Schule habe ich mir nie darüber Gedanken gemacht, wo und mit wem ich zu Mittag esse. Meist jaust man zwischendurch oder setzt sich in die kleine Gemeinschaftsküche und kommt dadurch mit allen Anwesenden ins Gespräch.

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein Ereignis aus meiner zweiten Arbeitswoche: Ich saß gemeinsam mit Kolleg*innen im Büro und alle waren mit ihrer Arbeit beschäftigt. Plötzlich fühlten sich die anderen vom Lärm einer Schulklasse im Hof gestört und schlossen die Fenster, um in Ruhe weiterarbeiten zu können. Ich war die Einzige, die diesen Lärm nicht einmal wahrgenommen hatte!

Was hat dich dazu motiviert, einen Seitenwechsel zu machen?

Um ehrlich zu sein, habe ich zunächst damit gehadert: Es kostet sehr viel Überwindung, Gewohntes zurückzulassen und sich neuen Herausforderungen zu stellen. Nun, nach den ersten Monaten bin ich unglaublich froh und zugegebenermaßen stolz auf mich, diesen Schritt gewagt zu haben.

Es hat nicht nur einen, sondern mehrere Gründe für meine Teilnahme an dem Programm gegeben. In den letzten Jahren habe ich mir immer wieder die Frage gestellt: „Wars das jetzt? Mache ich das jetzt die nächsten 30 Jahre?“ Mit der Zeit war ich mir sicher, dass ich temporär aus dem System ausbrechen muss, um diesen Fragen nachzugehen. Als ich das erste Mal vom Programm „Seitenwechsel“ hörte, war ich begeistert. Zu diesem Zeitpunkt befand sich meine eigene Klasse in der 7. Klasse. Die Vorstellung, nach acht Jahren das letzte gemeinsame Jahr nicht mit ihnen verbringen und sie nicht zur Matura führen zu können, war schrecklich. Daher wartete ich ein Jahr, bevor ich mich bewarb.

Auf persönlicher Ebene wollte ich eine neue Berufswelt, eine Welt außerhalb der Schule, kennenlernen. Ich habe noch nie in der Privatwirtschaft als Vollzeitangestellte gearbeitet. Man kann sagen, dass ich „nur“ die Schule kenne … erst als Schülerin und dann als Lehrerin. In der Schule bist du als Lehrer*in oft Bindeglied zwischen der Lebenswelt der Kinder und die der Erwachsenen. Oftmals erzähle ich meinen Schüler*innen Geschichten aus dem Alltag. Ich habe den Eindruck, dass sie durch den persönlichen Bezug viel aufmerksamer sind, ich als Lehrerin viel greifbarer für sie bin. Doch in den letzten Jahren wiederholten sich meine Geschichten. In diesem Zusammenhang habe mich immer mehr gefragt, wie ich die Erwachsenen von morgen auf eine Arbeitswelt vorbereiten kann, die ich selbst nicht kenne. So bereite ich zwar meine Schüler*innen im Rahmen meines Unterrichtsfaches „Berufsorientierung“ auf Vorstellungsgespräche vor und erstelle mit ihnen gemeinsam Bewerbungsunterlagen, doch habe ich mich selbst nie einem Bewerbungsprozess stellen müssen. Ich führe zwar meine Schüler*innen zur Matura, doch auf welche Skills kommt es in der Welt außerhalb der Schule tatsächlich an? Nun, ich hoffe, dass Scheherazade in diesem Jahr ihr Buch mit neuen Geschichten füllen kann.

Woran arbeitest du beim öbv? Wie schaut ein typischer Arbeitstag für dich aus?

Ich bin bei lörn, einer Bildungsplattform für Lehrkräfte, und unterstütze dort hauptsächlich im Content-Bereich. Das bedeutet, ich betreue unsere Autor*innen und gebe ihnen inhaltliches und didaktisches Feedback. Manchmal vertrete ich lörn bei Veranstaltungen. Außerdem erstelle ich eigene lörn-Module (digitale Unterrichtspakete) zu unterschiedlichen Themen. Mein erstes Modul „Mit deiner Stimme die Welt verändern: Politische Beteiligungsformen der Demokratie“ ist derzeit für alle Lehrkräfte kostenlos verfügbar und wartet nur darauf, im Unterricht eingesetzt zu werden.

Seit kurzem unterstütze ich auch die Deutschredaktion bei der Erstellung des Lehrwerks „Vielfach Deutsch“, womit ich selbst sehr gerne im Unterricht gearbeitet habe.

© Wirlphoto

Welche besonderen Momente oder Erfolge hast du hier beim öbv schon erlebt?

Nach der Fertigstellung meines lörn-Moduls habe ich sehr positives und wertschätzendes Feedback erhalten. Lehrkräfte unterrichten meist alleine in der Klasse und erhalten selten von Schüler*innen eine Rückmeldung zu ihrem Unterricht. Umso schöner war es, für meine Arbeit gelobt zu werden.

Welche Erfahrung oder Erkenntnis aus deiner Zeit als Lehrerin ist in der Arbeit hier beim öbv besonders nützlich?

Ich werde oft von Kolleg*innen zu meinem Einsatz von unterschiedlichen Lehr- und Lernmedien im Unterricht gefragt. Durch mich erhalten sie einen Einblick in die Lebenswelt der Lehrer*innen und Schüler*innen und können ihre Produkte besser an ihre Zielgruppen anpassen.

Bei lörn kann mich mein didaktisches Know-How einbringen. Mir ist aufgefallen, dass ich dank meiner jahrelangen Erfahrung als Lehrerin unseren Autor*innen fächerunabhängig Rückmeldungen zu ihren Einheiten und Modulen geben kann. Auch das Einnehmen der Schüler*innenperspektive ist mir bei einer Arbeit eine große Hilfe.

Ich habe den Eindruck, dass ein Großteil der Menschen nicht weiß, wie vielseitig der Lehrberuf ist und dass das Unterrichten die geringste Arbeitszeit in Anspruch nimmt. Aufgrund dieser Vielseitigkeit bringen wir so viele wertvolle Kompetenzen mit, die auch außerhalb des Bildungsbereich von großem Nutzen sein können – Eine Erkenntnis, die ich für mich in den letzten Wochen gewonnen habe.

Welche neuen Fähigkeiten oder Kenntnisse hast du seit deinem Wechsel zum öbv erworben?

Hautsächlich im digitalen Bereich habe ich neue Erkenntnisse erworben. Man arbeitet in der Privatwirtschaft viel mit digitalen Tools und anders als in der Schule muss man sich damit auseinandersetzen.

In den letzten Jahren engagierte ich mich sehr an meiner Schule und war es gewohnt, viel Verantwortung zu übernehmen und in einigen Bereichen eigenständig Entscheidungen zu treffen. So war ich für meinen Unterricht alleine verantwortlich – niemand mischte sich ein. Nun bin ich Teil eines Teams und muss mich mit meinen Kolleg*innen absprechen. Das ist natürlich in vielen Situationen sehr entlastend, aber für eine Lehrerin eine enorme Umstellung.

Wenn du den Seitenwechsel nicht gemacht hättest, würdest du heute in der Schule stehen. Was würdest du gerade tun?

Am ersten Tag nach den Weihnachtsferien würde ich zumindest in einer Klasse Schularbeiten zurückgeben und Feedbackgespräche mit meinen Schüler*innen führen. Da Notenschluss in zwei Wochen bevorsteht, würde ich mich noch um ausstehende Frühwarngespräche mit Eltern kümmern. Gut möglich, dass auch Maturant*innen beim dritten Reifeprüfungstermin die Matura bei mir ablegen. Wahrscheinlich würde ich auch viel supplieren, da viele Lehrkräfte vor und in den Weihnachtsferien krank werden und dadurch ausfallen – generell ist die Zeit nach Weihnachten bis Notenschluss immer sehr stressig.

© Wirlphoto

Wie würde sich deine Arbeit und dein Umfeld unterscheiden?

Ich würde auf jeden Fall viel weniger am PC sitzen und mit wesentlich mehr Menschen interagieren. In der Schule befindest du dich mit deinen Schüler*innen und Kolleg*innen permanent im Austausch. Zwischendurch führt man Gespräche mit Eltern, organisiert Ausflüge und vieles mehr. Nachmittags korrigiert man Hausübungen und Schularbeiten. Rückblickend frage ich mich, wie ich das alles geschafft habe. Doch dann fällt mir wieder ein, dass ich oft bis spätnachmittags in der Schule war und selbst am Wochenende immer etwas für die Schule vor- oder nachbereitet habe.

Dank des Gleitzeitmodells kann ich mir beim öbv meine Arbeitszeit wesentlich flexibler einteilen. Kein starrer Stundenplan oder eine Schulglocke takten meinen Tag. Mittlerweile stressen mich Betriebsstörungen bei den Öffentlichen Verkehrsmitteln nicht, da ich keine Aufsichtspflicht habe und bei einer Verspätung nicht Kolleg*innen für mich einspringen müssen.

Was vermisst du aus dem Schulalltag?

In erster Linie die Beziehungsarbeit. Es ist schön, Kinder und Jugendliche zu unterrichten und sie in ihrer Entwicklung zu begleiten. Die Zeit mit den Kindern im Unterricht habe ich nie als Belastung empfunden, meist hatte ich sehr viel Spaß. Mir war es immer wichtig, meine Schüler*innen als Individuen wahrzunehmen und nie wegzusehen, wenn sie etwas belastet hat. Außerdem vermisse ich es, eigenständig Entscheidungen treffen zu können.

In einem Jahr wirst du wieder in der Klasse stehen: Welchen Einfluss wird der Seitenwechsel wohl auf deine Arbeit zurück in der Schule haben?

Das ist eine gute Frage. Ich gehe dieses Szenario oft in Gedanken durch. Natürlich ist die Sorge da, in ein Hamsterrad zurückzukehren und Teil eines sehr starren Systems zu sein, das wenig Handlungsspielraum zulässt. Gewisse Strukturen werde ich nicht aufbrechen können. Bei einer Sache bin ich mir sehr sicher: Meine Work-Life-Balance wird sich auf jeden Fall ändern, da ich vor meiner Teilnahme am Seitenwechselprogramm bezüglich der Arbeitsbelastung an meine Grenzen gestoßen bin und ich meine Schüler*innen nicht unterstützen kann, wenn es mir selbst schlecht geht.

Wenn du einen Aspekt aus dem öbv mit zurück in die Schule nehmen könntest, was würdest du wählen?

Im Rahmen des Seitenwechsels setzen alle teilnehmenden Lehrkräfte bei der Rückkehr an die Schule ein Projekt um. Vorrangig möchte ich mich der Lehrer*innengesundheit widmen und unser Arbeitsumfeld optimieren. Beim öbv schätze ich besonders die Verwendung ergonomischer Arbeitsmöbel und die Verfügbarkeit von Rückzugsorten, die es ermöglichen, abzuschalten. Ich finde es schade, dass dem Staat das Wohl der Lehrer*innen in diesem Bereich nicht mehr am Herzen liegt. Manchmal komme ich mir in der Schule wie eine Soldatin an der Front vor, die weder mit Waffen noch mit einer Schutzausrüstung ausgestattet ist. Erwartet wird jedoch von mir, dass ich den Krieg gewinne.

Ein weiterer Aspekt wäre die Einführung einer Feedbackkultur. Ich würde mehr viel mehr fachlichen Austausch zwischen Kolleg*innen wünschen, zum Beispiel in Form von kollegialen Hospitationen. Sobald ich diesen Wunsch äußere, höre ich die Stimmen meiner Kolleg*innen: „Wie soll das gehen? Das wäre ja in meiner Freizeit! Was soll ich noch alles unbezahlt tun?“ Ihre Kritik ist berechtigt und es lässt sich nicht leugnen, dass im Konferenzzimmer bereits fachlicher Austausch stattfindet. Allerdings geschieht dies häufig informell oder wird durch Unterbrechungen gestört. In diesem Zusammenhang liegt die Verantwortung beim Staat, angemessene Strukturen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die für Professionalität und Qualität erforderlich sind.

Welchen Rat würdest du anderen Lehrkräften geben, die überlegen, am Programm Seitenwechsel teilzunehmen?

Ich würde ihnen raten, offen und ohne zu konkrete Vorstellungen an die Sache heranzutreten. Fakt ist, dass sie sich nicht auf eine vorab klar definierte Stelle bewerben und aus diesem Grund im Team erst ihren Platz finden müssen.

Ich bin ich dankbar für diese Gelegenheit und kann jeder Lehrperson nur raten, auch außerhalb der Schule berufliche Erfahrungen zu sammeln. Als Lehrer*in ist man in erster Linie Vermittler*in zwischen den Welten. Es wäre schön, wenn sich unsere Welt nicht nur auf die Schule beschränkt.

 

Übrigens: Alle Infos zum Seitenwechsel gibt es auf www.seitenwechsel.at.

Tags : Seitenwechsel