schliessen

„Nicht das Medium, der Inhalt ist entscheidend“

Interview mit Maximilian Schulyok_Beitragsbild

Der Österreichische Bundesverlag (öbv) ist 250 Jahre alt. Geschäftsführer Maximilian Schulyok baut auf dieser Erfahrung auf, das Unternehmen und seine Angebote auf die Zukunft auszurichten. Denn: Die Digitalisierung ändert vieles grundlegend. Den Wert der Bildung ändert sie nicht.

Herr Schulyok, was ist Bildung?

Schulyok: Bildung hat mit dem Bild, das man von der Welt und der Gesellschaft hat, zu tun. Je mehr Bildung man hat, desto breiter, umfangreicher und vielseitiger wird dieses Bild. Bildung ist neben der Klimakrise, Digitalisierung und anderen Themen eines der wichtigsten Zukunftsthemen und wird noch deutlich an Relevanz gewinnen. Einen Gutteil der Jobs, die es 2035 geben wird, kennen wir heute noch gar nicht. Da stellt sich doch die Frage: Welche Bildung braucht es für dieses sehr volatile Umfeld? Was sind die berühmten 21st Century Skills, um gut auf diese Welt im Wandel vorbereitet zu sein?

Und welche sind das?

Schulyok: Die Welt hat sich in den letzten zehn Jahren stärker verändert als in den neunzig Jahren davor. Was brauchen wir, um ein glückerfülltes Leben zu leben? Ein erfolgreiches Leben nicht nur im Beruf, sondern auch im gesellschaftlichen und familiären Umfeld? Wir werden uns wesentlich schneller auf neue Dinge einstellen müssen – aber auch dürfen. Ich bin überzeugt, die Fähigkeit, mit Veränderungen umgehen zu können und das als Chance, nicht als Bedrohung zu begreifen, Freude daran zu haben, Neues zu lernen und auf neue Anforderungen auch für sich selbst Antworten zu finden, ist von essenzieller Bedeutung.

Das heißt, gute Bildung trägt zu der Kompetenz bei, Veränderungen aufgreifen und zu seinem Vorteil einsetzen zu können?

Schulyok: Auf alle Fälle. Es ist ein ganz wichtiger Punkt, zu lernen, wie man mit Veränderung umgeht. Es ist auch wichtig, zu lernen, Mut zu haben und da oder dort auch einen etwas unbeschwerteren und positiven Blick auf die Welt und die Geschehnisse zu haben. Im März 2020 stand das Bildungssystem durch den Coronalockdown vor enormen Herausforderungen. Das hat unser Bild davon, was Bildung und Schule sind, komplett verändert. Die Schwächen unseres Bildungssystems waren davor schon bekannt, zum Beispiel die schlechte digitale Ausstattung in Schulen. Durch die Pandemie konnte sie nicht länger ignoriert werden. Da ist der Druck in Richtung Politik gestiegen, alle Schülerinnen und Schüler ab der fünften Schulstufe mit einem digitalen Endgerät auszustatten. Nun darf man nicht den Fehler machen, zu glauben, wenn man allen Lernenden einen Laptop in die Hand drückt, ist die Digitalisierung erledigt. Das ist nur der erste Schritt. Der nächste muss sein, zu überlegen, was wir mit dieser digitalen Ausstattung tatsächlich am Unterricht und in der Bildung verändern. Wo ist es sinnvoll auf Digitalisierung und digitales Lernen zu setzen? Vor allem aber: Wie befähigen wir Lehrkräfte dazu, sinnvoll digital unterstützt zu unterrichten. Mit der Ausgabe von Geräten allein ist nichts getan. Es braucht mehr.

Im Grunde ist das doch eine großartige Ausgangsposition: Dank der Digitalisierung steht uns heute so viel Wissen wie nie zuvor zur Verfügung, auf Knopfdruck.

Maximilian Schulyok

Schulyok: Das stimmt. Man muss aber auch sagen: Es steht uns auch so viel Halbwissen zur Verfügung wie noch nie. Daher braucht es die Kompetenz, zu erkennen, was ist Wissen aus einer Quelle, der man vertrauen kann? Was ist Halbwissen oder bewusste Propaganda? Das mit auf den Weg zu geben, ist wichtig. In der ganzen Euphorie rund um die Digitalisierung muss man auch sagen, dass diese Diskussion oft etwas zu oberflächlich geführt wird. Man muss darüber reden, wann und wo der Einsatz digitaler Medien tatsächlich sinnvoll ist. Aus der Forschung weiß man, dass es durchaus sinnvoll ist, dass Kinder im Alter von sechs Jahren in Büchern lesen und auf einem Blatt Papier schreiben.

Die unbestreitbaren Vorteile der Digitalisierung liegen darin, dass viel individueller auf die Bedürfnisse, auf die Stärken, auf die Schwächen einzelner Schülerinnen und Schüler eingegangen werden kann. Da kann die Digitalisierung tatsächlich unterstützen. Der öbv hat in der Vergangenheit dasselbe Schulbuch für alle 25 Kinder einer Klasse gemacht. In Zukunft können wir ein Lehrmittel für jedes Kind anpassen, also für jede und jeden etwas Eigenes, anbieten. Weil wir durch Learning Analytics Stärken und Schwächen besser erkennen und einen Weg zeichnen können, der tatsächlich individuell auf die Bedürfnisse, Stärken und Schwächen von Lernenden eingehen kann. Das ist eine Riesenchance, die genutzt gehört. Gleichzeitig fehlt noch das Bewusstsein, dass wirklich gute digitale Lehr- und Lernmittel sehr aufwendig in der Herstellung sind und damit wesentlich teurer sind als ein Buch drucken zu lassen. Eine gute digitale Schule wird nicht günstiger. Aber sie birgt unglaubliche Chancen. Es lohnt sich darüber intensiv nachzudenken, welche Medien in welchen Unterrichts- und Lernsituationen am besten zum Einsatz kommen.

Apropos, der öbv macht längst nicht mehr nur Bücher, sondern bietet die gesamte Bandbreite an Bildungsmedien an. Welche Rolle spielt das Buch in Zukunft?

Schulyok: Ich bin überzeugt, dass das klassische Buch auch in Zukunft vor allem im Bereich der Volksschule eine Rolle spielen wird. Es wird vielleicht nicht mehr dieselbe Bedeutung haben, die es in der Vergangenheit hatte und heute noch hat, weil die Digitalisierung gut und richtig ist. Es wird in Zukunft eine sinnvolle Kombination aus Gedrucktem und Digitalem geben. Wir, der öbv sind gut vorbereitet, weil wir über ein sehr genaues Bild der Realität im Klassenzimmer verfügen. Wir können den Prozess der Digitalisierung entsprechend zielgerichtet begleiten. Wir können vor allem glaubwürdig zwischen dem, was die Politik sich vorstellt und dem, was Pädagoginnen und Pädagogen brauchen, vermitteln. Wir übersetzen Lehrpläne, wir unterstützen Lehrkräfte darin, Unterricht erfolgreich zu gestalten. Wir verkaufen keine Bücher, sondern bieten die Rezepte für erfolgreichen Unterricht. Das Medium Buch als solches ist für uns nicht das Entscheidende.

Wesentlich ist in diesem Zusammenhang wohl auch wie Lehrerinnen und Lehrer mit der Digitalisierung umgehen und ihre Möglichkeiten nutzen können?

Schulyok: Lehrer*innen sind die zentrale Figur im Unterricht, ohne sie geht gar nichts. Als Bildungsunternehmen arbeiten wir intensiv daran, ihnen gute Tools für den Einsatz im Unterricht und eine Erweiterung ihres eigenen Skillsets zu bieten. Wir unterstützen sie bestmöglich dabei, Wirksamkeit zu entfalten. Und – wir müssen uns der Behauptung entgegenstellen, unser Schulsystem sei so schlecht. Das ist pure Demotivation all jener, die an den Schulen unterrichten. Wir müssen dringend darüber nachdenken, warum dem Job der Lehrenden, so wenig Wertschätzung entgegengebracht wird. Wir brauchen motivierte und engagierte Pädagoginnen und Pädagogen. Sonst geht jede Reform ins Leere.

Spiegelt sich in dieser Haltung eine generell distanzierte Grundeinstellung der Österreicher*innen gegenüber Bildung und Schule?

Schulyok: In Österreich wird über die Streber*innen viel gelacht. Warum aber belächelt man jemand, der sich für was interessiert, sich für etwas engagiert, sich in etwas reinhängt? Das kommt ja nicht nur aus der Schule, es kommt auch aus der Gesellschaft. Darüber sollte man nachdenken. Lassen Sie mich das bitte an einem Beispiel illustrieren: Es gibt in Österreich 1,1 Millionen Schülerinnen und Schüler. Gut ein Drittel von ihnen sind mit einem Gegenstand oder mit dem System überfordert und brauchen Förderung, was sich in einem boomenden Nachhilfemarkt auswirkt. Gleichzeitig gibt es rund 200.000 Schüler*innen, die das Potenzial zu sehr guten Leistungen haben. Da reden wir nicht von Hochbegabung, aber von Kindern und Jugendlichen, die tatsächlich unterfordert sind. Und dann sind da noch die 600.000 in der Mitte, die ganz gut mit dem Schulsystem zurechtkommen. Die Gesellschaft fokussiert sich in der öffentlichen Debatte fast ausschließlich auf die 300.000 Jugendlichen mit Förderbedarf. Lässt aber all jene außer Acht, die über das, was der Lehrplan vorgibt, hinausgehen könnten. Ich denke, es wäre wert, zu überlegen, was wir begabten, besonders interessierten, in manchen Fächern unterforderten Kindern und Jugendlichen anbieten können. Wo können wir generell anfangen uns auf Stärken, Interessen und das Entfalten von Potentialen zu fokussieren, anstatt immer nur auf die Fehler zu schauen. Das ist einer der Bereiche, wo wir im Schulsystem einen Schritt weiterkommen sollten.

Stichwort Schulsystem. Ist es nicht so, dass wir immer noch „Die Feuerzangenbowle“ als das Ideal einer Schule im Kopf haben? Humanistisch, aber ein wenig altbacken?

Schulyok: Eine gewisse humanistische Prägung, Werteorientierung und Allgemeinbildung sind ein gutes Handwerkszeug. Schule ist aber mehr: ein Ort sozialen Lernens und des Zusammenkommens. Kinder und Jugendliche gehen in die Schule, weil sie dort ihre Freundinnen und Freunde sehen und gleichzeitig etwas lernen. Man kann drüber reden, ob man diese Orte des sozialen Lernens nicht anders gestalten kann, so dass mehr Kooperation, mehr Austausch möglich ist, auch mehr Austausch zwischen Kindern unterschiedlicher Altersstufen. Die Institution Schule – das hat man noch nie so deutlich gesehen wie in den letzten Jahren – ist als sozialer Raum von zentraler Bedeutung. Dass sie sich weiterentwickeln muss, steht außer Frage.

Werden Sie in Ihrer Expertise von den verschiedenen Proponenten in der gesamten Bildungsdiskussion auch gehört?

„Es steht außer Frage, dass sich die Institution Schule weiterentwickeln muss.“

Schulyok: Wir sind sehr engagiert, das einzufordern und Vorschläge zu machen. Wir haben uns vor einigen Jahren in der Branche der Ersteller von Bildungsinhalten zur Allianz Bildungsmedien Österreich zusammengeschlossen. Unsere Gesprächsbasis mit dem Unterrichts- und dem Familienministerium ist sehr gut. Wir werden verstärkt gehört und das ist wichtig. Erfolg, das zeigt das Beispiel anderer Länder, stellt sich ein, wenn alle Stakeholder aus dem Bildungsbereich frühzeitig und lösungsorientiert zusammenarbeiten, wenn es um neue Lehrpläne oder Ähnliches geht. Zum Beispiel um die Schulbuchaktion.

Die wurde 2022 50 Jahre alt und läuft in ihrer aktuellen Form 2025 aus. Derzeit führen wir sehr intensive Gespräche darüber, wie sie in Zukunft aussehen kann und wird. Es geht darum, in der Schulbuchaktion die gesamte Bandbreite an möglichen Angeboten abzubilden, vom Buch bis zu digitalen Medien, die zusammen den Lehrplan unterstützen. Geht es um Bildungsgerechtigkeit, ist die Grundidee der Schulbuchaktion – alles, was Schüler*innen an Unterlagen und Lehrmittel benötigen, bezahlt die öffentliche Hand – enorm wichtig. Es ist nach wie vor so, dass in Österreich Bildung vererbt wird, dass der finanzielle Background ebenso wie der Bildungsweg der Eltern prägend für die Bildungskarrieren junger Menschen ist. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass es im Fall von Bildung keine Rolle spielen darf, ob Eltern sich Unterrichtsmaterialen leisten können oder nicht. Den Grundgedanken, die öffentliche Hand beschafft, was Schülerinnen und Schüler in der Schule brauchen, halte ich aus Gründen der Bildungsgerechtigkeit und Chancenfairness für extrem wichtig.


Dieser Artikel ist für das Magazin klassezwanzigzukunft im Rahmen des Jubiläums „250 Jahre öbv“ entstanden.

Tags : #klassezwanzigzukunft250 Jahre öbvBildungMaximilian Schulyok