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„In der Schule der Zukunft wird kein Kind zurückgelassen“

In der Schule der zukunft wird kein Kind zurückgelassen_Betragsbild

An einem Mittwochvormittag treffen wir Michael Schratz und Heidi Schrodt im virtuellen Raum, um über die Zukunft der Schule und die Bedeutung des Fächerkanons zu sprechen. Beider Expertise ergänzt sich perfekt. Heidi Schrodt, die Praxiserfahrene, und Michael Schratz, der Forschende, kennen einander seit langem, führen ein vertrautes Gespräch und dringen rasch tief in die Materie vor. Das Folgende ist – platzbedingt – nur ein Ausschnitt.

Heidi Schrodt, Initiative Bildung Grenzenlos und langjährige Direktorin eines Gymnasiums

Beginnen wir das Gespräch über die Zukunft mit einem Motto aus der Antike: „Nicht für das Leben,  sondern für die Schule lernen wir.“

Michael Schratz: Das Zitat von Seneca zeigt, wie lange uns dieses Thema schon beschäftigt! Schon seit der Antike fragen wir uns, ob die Schule dazu taugt, Menschen für das Leben nach ihr vorzubereiten.

Heidi Schrodt: Ein Thema, das tatsächlich immer noch aktuell ist. Dabei darf man nicht vergessen, dass wir nicht nur in der Schule lernen: Von Klein auf lernen wir in verschiedensten Zusammenhängen. Der Kindergarten und die Schule sollten uns auf ein gutes, glückliches und verantwortungsvolles Leben vorbereiten.

Michael Schratz, Gründungsdekan der School of Education

Michael Schratz: Aus meiner Sicht ist es die Rolle der Schule, zwischen Vergangenheit und Zukunft zu vermitteln. Das heißt, es ist immer ein Abwägen, was man aus der Vergangenheit für die Zukunft brauchen kann. Müssen wir beispielsweise heute noch Latein lernen, um in Zukunft zu überleben?

Heidi Schrodt: Der Fortschritt in den letzten Jahrzehnten war so viel größer als in den Jahrhunderten davor. Und das strukturelle System wird ja an sich stärker von der Vergangenheit geprägt als von der Zukunft. Das heißt, die Inhalte der Lehrerausbildung müssen laufend aktualisiert werden.

Michael Schratz: Das ist ein guter Punkt! In den letzten 35 Jahren haben sich in der Schule gerade mal zwei Unterrichtsfächer verändert und überleg mal, was sich im Leben alles verändert hat. Aber glaubst du nicht, dass das österreichische und deutsche System besonders veränderungsresistent sind?

Heidi Schrodt: Doch, das kann ich aus meiner Zeit als Direktorin bestätigen. Wir durften damals autonom zwei Schulstunden einführen. Dafür mussten wir aber an anderer Stelle kürzen. Das heißt, ich bin damals von Lehrerin zu Lehrer gelaufen und habe gefragt, wer eine Stunde hergeben kann – das wollte natürlich niemand.

Michael Schratz: Das liegt vermutlich auch daran, dass die Fächer bei uns ganz stark den Schulalltag formatieren.

Heidi Schrodt: Das stimmt, aber trotz der ganzen bürokratischen Hürden gibt es bei uns im deutschsprachigen Raum durchaus innovative Schulen. Schule hat ja auch einen demokratischen Auftrag. Wir müssen uns fragen, wie kann ich am Ende der Schulpflicht sicherstellen, dass gute Bürger*innen die Schule verlassen, die ausreichend Wissen haben, um mitzuwirken?

Michael Schratz: Schule erfüllt in der Gesellschaft grob gesagt drei Funktionen. Die erste ist Selektion. Die Aufgabe der Politik ist es, das Miteinander der Menschen zu ordnen. Es muss geklärt werden, welche Kompetenzen braucht jemand – welche braucht der Arzt und welche die Ingenieurin? Das Problem ist, dass wir diese Selektion überbewerten. Die zweite ist die Sozialisations-Funktion, die du dargestellt hast. Also wie werden Kinder zu guten Mitgliedern der Gesellschaft? Und die dritte Funktion ist die subjektive Bewertung. Das heißt, ich muss alle Menschen – wie auch immer sie sind – unterstützen. Die Schule konzentriert sich in ihrer Selektion hauptsächlich auf einzelne Fächer. Ich frage mich, wo sich die Mündigkeit im Fachunterricht abbildet.

Heidi Schrodt: Alle Bemühungen erfolgreicher Schulen gehen dahin, die engen Fächergrenzen zu überschreiten und zu verbinden. Es braucht regelmäßiges, fächerübergreifendes und vor allem projektorientiertes Arbeiten. Da wird beispielsweise die Frage gestellt: Was verstehen wir heute unter Europa? Und das Wissen und die Kompetenzen aus allen Fächern werden genutzt.

Michael Schratz: Genau. Ich besuche regelmäßig Schulen im Ausland und ein Beispiel hat mir besonders gut gefallen: Eine Grundschule, die jedes Jahr ein neues Thema verfolgt. Beispielsweise das Thema Baum. Der Stoff richtet sich dann danach. Sie gehen hinaus und schauen sich an, wie sich der Baum im Laufe des Jahres verändert. Dann sehen sie, wie der Baum befruchtet wird, welche Früchte er trägt und zu guter Letzt verkaufen sie die Früchte auf einem Wochenmarkt. Dafür müssen sie kalkulieren, wie viele Körbe sie brauchen und zu welchem Preis sie die Früchte verkaufen müssen, um rentabel zu sein. Mit dem Geld können sie dann auf Landschulwoche fahren.

Die Schule soll ein Ort sein, an dem sich jede*r wohlfühlt. Es braucht unterschiedliche Räume für unterschiedliche Funktionen. Michael Schratz

Heidi Schrodt: In Österreich fehlen uns leider die Voraussetzungen für solche tiefgreifenden Reformen. Was es aber braucht, sind Lehrer*innen, die anders qualifiziert sind, als das bisher der Fall war. Es genügt nicht, Lehrpläne zu reformieren. Man muss auch eine Vision haben, wie sich der Unterricht ändern soll. Was brauchen wir, um für die Zeit, in der wir leben, gut ausgestattet zu sein?

Michael Schratz: Dafür muss man auch an der Lehrer*innen-Ausbildung arbeiten. Wir haben in Innsbruck beispielsweise die School of Education gegründet. Damit die Lehramts-Studierenden einen gemeinsamen Treffpunkt, eine Heimat, haben. Vorab waren sie auf verschiedene Fakultäten verstreut. In der School of Education wurde ein besonderes Augenmerk auf Pädagogik gelegt.

Heidi Schrodt: Man darf hier allerdings nicht auf die fachliche Ausbildung vergessen – die ist extrem wichtig! Die Lehrer*innen brauchen nur eine neue Perspektive. Sie müssen den Unterricht auf den Bedürfnissen der Kinder aufbauen. Dafür muss man sein ganzes Fachwissen einbringen und auch pädagogisch sensibel sein.

Michael Schratz: Genau, die fachliche Ausbildung ist ebenso wichtig. Man hat gesehen, dass projektbezogener Unterricht bei Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern viel schwieriger umzusetzen ist. Sie tun sich mit selbstbestimmtem Lernen viel schwerer. Dem kann man gegensteuern, man muss es nur wissen als Lehrperson. Aber die Ausbildung der Lehrer*innen ist nicht das Einzige, was man angreifen sollte. Ich finde, man kann in der Schuldiskussion auch die Frage stellen: Müssen wirklich immer ALLE Schüler*innen vor Ort sein? Früher war es undenkbar, dass einige von zuhause aus lernen, aber die Pandemie hat das verändert. Und es gibt ja Schulen mit langen Anfahrtswegen. Teilweise müssen Schüler*innen lange Wege hinter sich bringen, um dann vor Ort etwas zu lernen, das sie genauso gut von zuhause aus hätten lernen können.

Heidi Schrodt: Ich gebe dir hier nur teilweise recht. Natürlich macht es Sinn, den Unterricht individueller zu gestalten. Dann können beispielsweise auch die guten Schüler*innen Stoff zuhause aufarbeiten und in der Schule kann man sich um die Schwächeren kümmern. Aber die Schule ist ein enorm wichtiger Lebensraum. Grundsätzlich sollte das Miteinander aller gefördert werden.

Michael Schratz: Die Sozialisierungsfunktion ist definitiv wichtig. Hier finde ich auch, dass das Schulsystem auch die Jahre und Erfahrungen der Schüler*innen vor der Schule mitdenken muss – schon vor der Elementarpädagogik. Es gibt Gegenden, da wird der Lebenslauf der Kinder von Anfang an mitgedacht, die Stärken gefördert und bei den Schwachstellen angesetzt.

Heidi Schrodt:  Ich mag diese Idee. In Österreich haben wir eine zu hohe Orientierung an den Defiziten. Bei Schulbesuchen in USA oder UK werden Talente stärker hervorgehoben. Wenn jemand im Sport gut ist, wird das gefeiert. Bei uns geht es zu sehr darum, was einzelne Kinder noch nicht können. Es gibt auch Modelle, da bekommt jedes Kind in der Grundschule täglich die Rückmeldung, was es heute gut gemacht hat. Fünfmal die Woche geht das Kind mit einer Erfolgsmeldung nach Hause.

Alle Bemühungen erfolgreicher Schulen gehen dahin, die engen Fächergrenzen zu überschreiten und zu verbinden. Heidi Schrodt

Wie sieht für Sie die Klasse Zwanzig Zukunft aus?

Heidi Schrodt: In der Schule der Zukunft wird kein Kind zurückgelassen! Jedes Kind wird bestmöglich in seinen Fähigkeiten gefördert und gefordert. Lernen findet miteinander statt, in unterschiedlichen Formen. Die Eltern sind von Anfang an mit im Boot. Lehrer*innen helfen den Schüler*innen dabei, dort hinzukommen, wo sie hinkommen wollen.

Michael Schratz: Die Schule soll ein Ort sein, an dem sich jede*r wohlfühlt. Es braucht unterschiedliche Räume für unterschiedliche Funktionen. Ich habe früher Schüler*innen mit Kameras durch die Schulen geschickt. Sie sollten rückmelden, wo sie sich wohlfühlen und wo nicht. Was am meisten vorkam, war die Toilette. Und zwar sowohl im positiven als auch im negativen Sinn. Weil es einerseits für viele der einzige Ort in der ganzen Schule ist, wo sie allein sein können. Andererseits ist es oft so schmutzig – manche trinken sogar absichtlich wenig, um es zu meiden. Schule sollte ein Lebensraum sein, in dem gute Lehr- und Lernmöglichkeiten geschaffen werden.


Dieser Artikel ist für das Magazin klassezwanzigzukunft im Rahmen des Jubiläums „250 Jahre öbv“ entstanden.

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