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Die Welt mit Mathematik lesen lernen

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Niki Popper, Simulationsforscher

Gemeinsam mit anderen Expert*innen haben sie der Coronapolitik ein nachvollziehbares, evidenzbasiertes Fundament eingezogen. Darüber sind Niki Popper und Peter Klimek gewissermaßen zu TV-Stars geworden. Wir treffen die beiden im Institut Peter Klimeks und konfrontieren sie zuallererst mit der Frage, warum die Mathematik eigentlich als das Angstfach schlechthin gilt.

 

 

Peter Klimek, Komplexitätsforscher

Warum ist Mathematik ein Angstfach?

 Peter Klimek : Da ist zuallererst eine Differenzierung notwendig: In der Schule lernt man vor allem Rechnen und wenig Mathematik. Es wird auf die formalisierten Rechenwege fokussiert. Mathematisches Denken an sich kommt zu kurz. Das kann man lernen, wenn man sich hinsetzt und kapiert, wie man ein Problem angeht. Wie man es in Einzelprobleme zerlegen muss, um es lösen zu können.

Das ist ein Prozess. Ich glaube, viel von diesem „Angstfach“ kommt daher, dass zu wenig Energie dafür aufgewendet wird, diesen Prozess verständlich zu machen. Es wird erwartet, dass Beispiele gerechnet werden. Aber der Schritt, die Lösungswege so zu kategorisieren, um das auf andere Beispiele anwenden zu können, dieser Schritt kommt häufig zu kurz.

Niki Popper: Das sehe ich auch so. Mir erscheinen zwei weitere Aspekte wichtig. Es wird zu wenig ausprobiert. Das ist jetzt kein Vorwurf an die Lehrer*innen, aber stellt man Kindern die Frage, was es bedeutet, eine Wegstrecke immer zu halbieren, und wie lang diese Strecke dann sein wird, dann kommen acht-, sieben-, sechsjährige Kinder drauf, dass das total spannend ist. Man hat eine Sprache, die man lernt, und mit der sich auch noch praktische Rätsel lösen lassen. Also viel cooler geht es ja eigentlich nicht. Aber das kommt zu kurz. Der zweite Aspekt ist, dass es gesellschaftlich akzeptiert ist, zu betonen, dass man in Mathematik eigentlich eh schlecht war. Das ist der Reißer auf Partys und Twitter.

Peter Klimek: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Bei uns ist es en vogue, zu sagen, dass man sich mit Mathematik nicht auskennt. In Ungarn hingegen sagt man – ein wenig provokant –, ein gescheiter Mann ist gut im Sport und in Mathematik. Das ist eine ganz andere Konnotation, eine ganz andere Assoziation.

Wenn es also schon nicht cool ist, lässt sich Mathematik dann vielleicht über ihren praktischen Nutzen besser vermitteln? Was bringt sie denn?

Niki Popper: Also so wie immer im Leben ist für mich die allererste Antwort: enorm viel Spaß. Egal was ich beruflich mache – habe ich keine Freude daran, werde ich es nicht so gut machen, wie wenn ich Freude daran habe. Praktisch betrachtet, lerne ich eine gewisse Kompetenz, die mir dabei hilft, Probleme zu lösen. Ich lerne logisches Denken, ich lerne Formalisieren. Ich lerne, mich mit der Welt in einer anderen Art und Weise auseinander zu setzen. Das gilt für das Musizieren, das Betrachten von Bildern, Sprachen zu beherrschen oder auch für das Reiten.

Peter Klimek: Es geht um ganz praktische Dinge. Zum Beispiel darum, mir vorzustellen, wie groß ist eine Wohnung mit 80 Quadratmetern im Vergleich zu einer mit 100 Quadratmetern. Es ist in vielen Belangen schlichtweg wichtig, dass man einfach Zahlen lesen kann, Zahlen miteinander zu kombinieren und in Relation zu setzen. Das ist Mathematik. Es geht darum, die Welt lesen und verstehen zu können.  Man hat zum Beispiel untersucht, wie man die Sinnhaftigkeit von Impfungen kommunizieren kann. Versuchsreihen mit unterschiedlichen Grafiken haben ergeben, dass viele Menschen sie einfach nicht lesen können. Da dominiert dann das Bauchgefühl anstelle der Evidenz. Ein schönes Beispiel für den Nutzen angewandter Mathematik im Zusammenhang mit Impfen stammt aus Portugal. Dort demonstrierte ein General die Wirksamkeit mit folgendem Bild: Stellen Sie sich vor, Sie stehen an einer Weggabelung. Links ist ein Scharfschütze, der tötet einen von 500.000 Menschen, rechts ist ein Scharfschütze, der tötet einen von 200. Welchen Weg wählen Sie? Unabhängig vom Bild zeigt das Beispiel, dass wir ständig mit Situationen konfrontiert sind, in denen wir anhand von Wahrscheinlichkeiten Entscheidungen treffen müssen. Und jeder abgegebene Lottoschein ist ja Zeichen dafür, dass Wahrscheinlichkeiten nicht verstanden werden.

Das ist Mathematik. Es geht darum, die Welt lesen und verstehen zu können. (Peter Klimek)

Niki Popper: Das stimmt. Wir haben das bei Covid gesehen und sehen es beim Klimawandel: Können Menschen Zahlen nicht einschätzen, fühlen sie sich übervorteilt und abgehängt und glauben Fake News. Das sind fundamentale Probleme.  Es fehlt eine gewisse Kompetenz im Umgang mit sehr komplexen Zusammenhängen und Daten. Wenn wir im Schulsystem nicht bald handeln und versuchen, die Besten der Besten zu werden, dann verlieren wir die Menschen. Und das ist der Punkt. Dann können wir uns ins Fernsehen stellen und irgendwas sagen und berechtigter Weise sagen dann die Leute, dass sie das nicht glauben. Weil ihnen das Rüstzeug fehlt.

Können Menschen Zahlen nicht einschätzen, fühlen sie sich übervorteilt und abgehängt und glauben Fake News. Das sind fundamentale Probleme. (Niki Popper)

Wann ist dann der richtige Zeitpunkt, den Spaß am Lösen von Problemen zu vermitteln? In der ersten Klasse Volksschule? Oder vielleicht noch früher, im Kindergarten? Kurzes Schweigen, dann ergreift Klimek  das Wort und hält fest, dass er kein Pädagoge sei. Wann man am besten mit der Vermittlung anfängt, kann er so nicht beantworten. Aber…

Peter Klimek: …aber es würde mich überraschen, würde ein spielerischer Zugang nicht halten. Am leichtesten lerne ich eine Methodik, wenn ich ein Problem vorgesetzt bekomme, wo ich eine Lösung entwickeln muss. Interessant wird es dann, wenn wir zu den richtigen gesellschaftlichen Herausforderungen kommen. Und da benötigen wir Kompetenz im Umgang mit Daten, im Umgang mit Zahlen. Das werden wir bitter notwendig haben, um die großen Herausforderungen, vor der wir stehen, lösen zu können.

Niki Popper: Ich glaube, wir beide gehören gerade zu jenen, für die nicht Mathematik und Physik das einzig Wichtige sind, sondern denen Geisteswissenschaften, Sprache, alles das gemeinsam mit den Naturwissenschaften wichtig sind – und die Mathematik ist ein Teil davon. Das ist das Zusammenspiel der Kompetenzen, das es uns erlaubt, Fake News zu erkennen.  Die Schule bietet die Möglichkeit, Menschen für bestimmte Effekte zu interessieren. Das ist großartig. Aber wir wählen den falschen Weg, wenn wir sie damit quälen, Differentialrechnungen zu lösen . Im Idealfall können wir ihnen sagen, dass sie damit einmal physikalische Probleme rechnen können. Aber wer kommt schon so weit? Wäre es nicht vielleicht zielführender, das Grundverständnis zu vermitteln, und zuzugeben, dass man später im Leben keine Differentialgleichungen lösen muss, weswegen wir sie weglassen können. Und stattdessen das Interesse der Schüler*innen an den Mechanismen, die in der Natur vorkommen, zu wecken. Oder ihnen beibringen, wie man Daten in Social Media identifiziert und versteht – ohne den ganzen Rattenschwanz, den nur wirklich wissenschaftlich Arbeitende irgendwann brauchen.

Wir wählen den falschen Weg, wenn wir Schüler damit quälen, Differenzialrechnungen zu lösen. (Niki Popper)

Also wäre Bildung, mathematische Bildung, als Rüstzeug für Lösungskompetenz zu sehen? Indem die Freude vermittelt wird, die es macht, komplexere Probleme zu durchdenken, zu behandeln und auch zu lösen? Popper nickt.

Peter Klimek: Während meines Studiums habe ich Nachhilfe in Mathematik gegeben. Dabei habe ich folgendes beobachtet: Viele setzen sich hin und beginnen zu rechnen, irgendetwas zu rechnen. Das hat meistens gar nichts mit dem zu tun, was gefragt ist. Aber vermutlich war da gerade ein Begriff griffbereit im Kopf: Wenn ich das gegeben habe, kann ich das einsetzen, also rechne ich los. Dann rechnen die teilweise zwei Seiten lang und kommen zu der Erkenntnis, dass sie zu keinem Ergebnis gelangen. Das frustriert natürlich. Also habe ich einen Leitfaden verfasst. Einen Leitfaden, wie man ein mathematisches Problem strukturiert liest, wie man die Informationen, die darin enthalten sind, erkennt und in Beziehung setzt, um dann zu einer Lösung zu gelangen. Das ist Problemlösungskompetenz, die reicht weit über die Mathematik hinaus. Es geht darum, vor einer Aufgabe zu stehen und nicht in Ohnmacht zu erstarren – dabei hilft uns die Mathematik, mathematisches Denken. Und das sollte Schule vermitteln.


Dieser Artikel ist für das Magazin klassezwanzigzukunft im Rahmen des Jubiläums „250 Jahre öbv“ entstanden.

Tags : #klassezwanzigzukunft250 Jahre öbvMathematik