schliessen

Traumapädagogik in der Coronaviruskrise

beitragsbild_traumapaedagogik_1_980x550
Foto: Africa Studio / Shutterstock

Eines haben alle Lehrerinnen und Lehrer, die schon einige Jahre in der Schule arbeiten gemeinsam: Wir kennen Kinder, die schwierige Schicksale haben. Wir kennen die Geschichten, die sie von zuhause erzählen, die Tobsuchtsanfälle und die leeren Blicke. Jetzt lesen wir überall in den Medien – die Coronaviruskrise habe besonders bei Kindern tiefe Spuren hinterlassen. Traumatisiert sind sie, schreiben Journalistinnen und Journalisten, erzählen Expertinnen und Experten, befürchten Eltern. Aber was ist das eigentlich, eine Traumatisierung? Wie gehen wir als Lehrerinnen und Lehrer damit um? Wie können wir Kindern helfen, damit sie wieder lernen wollen – und können?

Entstehung eines Traumas

Nach Hantke und Görges (2012) ist ein Trauma „ein Erleben nach dem Erleben – das Zusammentreffen eines Menschen mit einem Ereignis, das er nicht verkraften kann.“ (S. 54). Es ist das Resultat eines Geschehens, das von Betroffenen als bedrohlich (eventuell sogar lebensgefährdend) empfunden wird. Das Erlebte kann etwa aufgrund fehlender Ressourcen nicht angemessen verarbeitet werden kann. Der Körper schaltet in einer solchen Notsituation das bewusste Denken aus und sammelt Energie, um die Flucht zu ergreifen oder einen Kampf zu bestreiten. Dies ist bekannt als die sogenannte ‚fight-or-flight‘-Reaktion. Falls weder die Flucht noch der Kampf zu einem erfolgreichen Ergebnis führen, kann die Spannung im Körper nicht abgebaut werden. Es kommt zu einem Wechselspiel zwischen „Freeze-Zustand“, also dem Einfrieren, und einem völligen Verlust der Körperspannung.

Den „Freeze-Zustand“ kann man an der erstarrten Körperhaltung und dem Ausdruck des Kindes erkennen, es befindet sich in einer Art Schockreaktion. Viele Lehrpersonen kennen dieses Phänomen bei Kindern, die sich „in ihre eigene Welt zurückziehen“, was oft als unkonzentriert und abgelenkt abgetan wird. Im Laufe der kindlichen Entwicklung können solche Notsituationen, vor allem wenn sie öfter vorkommen, schwerwiegende Konsequenzen haben und zu einer Traumatisierung führen. Traumatisierungen können sich unterschiedlich zeigen – etwa durch Aggression, Tobsuchtsanfälle, fehlende Schmerzempfindlichkeit oder häufiges „Abwesend-Sein“.

Traumapädagogik

Die Traumapädagogik wird auch als traumasensible Pädagogik bezeichnet und beschreibt eine Forschungsrichtung, die sich seit den 1990er Jahren entwickelt und ihren Ursprung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe hat. Ihr Ziel ist es, traumatisierte Mädchen und Buben in ihrer Entwicklung und Traumabearbeitung zu unterstützen und stabilisieren. Essenziell für traumapädagogisches Arbeiten ist eine bestimmte Grundhaltung der Pädagoginnen und Pädagogen.

Die sogenannte „Annahme des guten Grundes“ veranschaulicht, dass alle Verhaltensweisen von Mädchen und Buben einem guten Grund unterliegen, welcher sich in deren Geschichte wiederfinden lässt. Traumatisierte Kinder haben aufgrund ihrer Erfahrungen Hilflosigkeit und Ohnmacht erlebt, weswegen sie oft in ihrem Selbstwertgefühl geschwächt sind.  Wertschätzung und die Möglichkeit der Partizipation können diesen Kindern helfen, Vertrauen zu sich selbst und anderen aufzubauen. Die betroffenen Kinder haben viel erlebt und überlebt – es liegt an den Pädagoginnen und Pädagogen, das zu sehen und wertzuschätzen. Diese Erkenntnis kann das Arbeiten mit traumatisierten Kindern auch für diese erleichtern: Wird das Verhalten der Schülerinnen und Schüler nicht als Provokation, sondern logische Konsequenz gesehen wird, kann anders damit umgegangen werden.

Coronaviruskrise – was nun?

In den letzten Monaten mussten sehr viele Kinder große Hürden überwinden. Sie haben ihre Bezugspersonen überfordert, möglicherweise auch hilflos erlebt und plötzlich ihr gewohntes, stabiles Umfeld in Schulen und Kindergärten verloren. Unsicherheit liegt in der Luft. Um diesen negativen Erfahrungen entgegenzuwirken muss jetzt, im neuen Schuljahr, ein sicherer Ort für Schülerinnen und Schüler geschaffen werden. Für traumatisierte Kinder kann es aber besonders schwierig sein, in der Schule Halt zu finden, da sie Leistungsdruck und Benotungen oft als Angriffe auf ihren Selbstwert verstehen. Das führt bei vielen Kinder zu großen Problemen, da die Schule einen Lebensmittelpunkt darstellt, unter anderem auch für soziale Kontakte. Es muss also durch das Erfüllen mehrerer Bedingungen wie entsprechend geschulte Lehrkräfte, positive und verlässliche Bindungsangebote und Transparenz aus der Schule ein sicherer Ort gemacht werden.

Als Lehrerin und Lehrer ist es besonders wichtig, für Struktur zu sorgen und die Verhaltensweisen des traumatisierten Kindes ‚auszuhalten‘, damit Vertrauen und somit das Gefühl von Sicherheit aufgebaut werden kann. Dazu gehören klar definierte, verbindliche Regeln und Konsequenzen (die jedoch mit den Kindern individuell vereinbart werden können), transparente Tages- und Wochenabläufe sowie wiederkehrende Rituale. Blicken wir von der momentanen Situation aufs kommende Schuljahr, so heißt das: Viel Raum für Erzählungen, Fragen und persönliche Erlebnisse schaffen und sich die Zeit für die Aufarbeitung dieser turbulenten Lebensphase nehmen.

Was man als Lehrkraft tun kan

Konkret bedeutet das, die vorbereitete Deutsch- oder Mathematikstunde bleiben zu lassen, um die Erzählung eines Kindes aufzugreifen und genau hinzuhören. Eine weitere Möglichkeit ist es Übungen zu machen, die das „Hinfühlen“ und Verbalisieren von Gefühlen fördern. Ein Beispiel dafür wäre den eigenen Körperumriss zu zeichnen und zu bearbeiten. Die Kinder können hier zeigen, wo Berührungen erwünscht beziehungsweise unerwünscht sind, welche Teile des Körpers ihnen gefallen beziehungsweise nicht gefallen und wo gewisse Empfindungen, wie Schmerz, Kälte oder Hunger, gespürt werden. Man könnte die Kinder auch dazu auffordern, zu zeigen, wo sie Atmung und Herzschlag wahrnehmen.

Bewegung ist ein wesentlicher Teil der Traumapädagogik. Die unterschiedlichsten Formen der körperlichen Bewegung können dazu führen, dass Kinder lernen, sich selbst spüren, koordinieren und regulieren zu können. Alte, eingelernte Muster, die das Kind nicht mehr braucht, sollen durch neue ersetzt werden. Hierzu gibt es viele unterschiedliche Ansätze, wie Qigong oder Yoga. Ein Beispiel einer traumapädagogischen Übung, die sich leicht im schulischen Kontext durchführen lässt, ist das ‚Stehen wie ein Baum‘. Die Methode hat seine Wurzeln im Qigong und soll den Kindern ein Gefühl der Erdung, des Aufgefangen-seins und der Kraft geben. Es geht hier darum, achtsam mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen und die eigenen ‚Wurzeln‘ wahrzunehmen, sowie die Körpermitte und den Atem. Dr. med. Claudia Croos-Müller hat dazu ein Kinderbuch verfasst, mit dem gutgelaunten Schaf Oskar als Hauptcharakter. Das Buch bietet eine Möglichkeit, verschiedene Übungen spielerisch zu erklären und durchzuführen, sowie sie später durchzusprechen (ISBN 978-3466309450).

Selbstfürsorge ist wichtig

Mit traumatisierten Kindern zu arbeiten fordert viel Kraft, kann belastend und überfordernd sein. Hierbei kann traumapädagogisches Fachwissen helfen. Es ist für die Stabilisierung von traumatisierten Kindern essenziell, dass Lehrerinnen und Lehrer wissen und verstehen, was gerade vorgeht. Dazu gehört auch ein Grundwissen über Formen der eigenen Selbstfürsorge und Psychohygiene, sowie die möglichen Folgen des Arbeitens mit traumatisierten Menschen.

Selbstfürsorge meint einen wertschätzenden und achtsamen Umgang mit der eigenen Person, mit besonderer Rücksichtnahme von Bedürfnissen und Wünschen. Um ein gesundes, wertschätzendes Umfeld für Pädagoginnen und Pädagogen zu schaffen sind ähnliche Rahmenbedingungen wie bei Kindern notwendig. Weiß spricht hier von „erhöhter Selbstaufmerksamkeit“ (S. 231), also besondere Achtsamkeit bei körperlichen Signalen sowie Emotionen, eigenen Grenzen und persönlichen Schutzmaßnahmen. Ein belastender Faktor in der Arbeit mit traumatisierten Mädchen und Buben ist das Wissen, wozu Menschen fähig sind, das heißt die Konfrontation mit dem Bösen. Dem kann mit schönen Umgebungen, stabilen Beziehungen sowie genug Schlaf und Achtsamkeit (eventuell mit Meditation oder Yoga) entgegengewirkt werden.

Anlaufstellen zur Selbsthilfe

Um belastete Kinder nachhaltig unterstützen zu können, muss man selbst gefestigt sein. Deshalb ist es gerade in dieser Zeit als Lehrerin und Lehrer besonders wichtig sich bei Bedarf Hilfe zu holen und der eigenen Ressourcen bewusst zu werden. Leider gibt es nur wenige Anlaufstellen für Lehrpersonen in Österreich, da Gewalt und Trauma bis heute tabuisierte Themen sind. Hier können Sie sich Unterstützung holen:

Für kostenlose Supervision:


Valerie Ott

Über die Autorin

Valerie Ott ist 25 Jahre alt und Volksschullehrerin in Wien mit englischem Schwerpunkt. Sie hat vor kurzem ihr Masterstudium der Traumapädagogik abgeschlossen und setzt sich sowohl inner- als auch außerhalb der Schule für eine offene, gleichberechtigte Gesellschaft ein.

 


Quellen

Hantke, L. & Görges, H. J. (2012): Handbuch Traumakompetenz: Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik. Paderborn: Junfermann.

Weiß, W. (2011): Philipp sucht sein Ich: Zum pädagogischen Umgang mit Traumata in den Erziehungshilfen. Beltz Juventa.

Tags : CoronaSelbsthilfeTraumapädagogik