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Lyrik in der Grundschule

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Foto: (c) Maica - istockphoto.com

Im zweiten Teil seines Plädoyers für eine intensivere Auseinandersetzung mit Literatur, auch und gerade in den unteren Schulstufen, setzt sich Reinhold Embacher mit dem pädagogischen Potenzial lyrischer Texte auseinander.

Dass Kinder in der Grundschule immer wieder Geschichten vorgelesen bekommen, selber Bildgeschichten schreiben, Satzglieder bestimmen, von den Grundwortarten hören, Recht­schreibregeln lernen etc., kann allgemein angenommen werden. Dass sie aber immer wieder Ge­­dichte lesen, sie analysieren und eigene lyrische Versuche anstellen, ist keineswegs so selbstverständlich. Lyrik gilt als schwierige Gattung, sie wird oft gerade von jüngeren Lehrpersonen vermieden, und selbst unter erfahrenen Lehrkräften gibt es nicht wenige, die „ly­rik-abstinent“ sind. Dabei eignet sich gerade Lyrik für literarische Lernpro­zes­se, da die Texte wegen ihrer Kürze vollständig zur Kenntnis gebracht werden können. Sie sind allerdings poe­tisch verdichtet und entfernen sich oft von der Alltagssprache. Wer sie erschließen will, muss verschiedene Methoden ihrer Dechiffrierung anwenden können.

Die drei Säulen des Lyrikunterrichts

Lyrikunterricht in der Schule basiert auf drei Säulen: Rezeption, Interpretation und Produktion.

Rezeption meint ganz allgemein die Textbegegnung. Welche Gedichte werden gelesen? In welchen Stunden und wie werden den Schülerinnen und Schülern lyrische Texte vermittelt? Und: Gibt es einen (mehr oder weniger offiziellen) Kanon solcher Texte? Davon ist zumindest auszugehen, wenn man an die Vielzahl von Kindergedichten denkt, die sich an Jahreszeiten und Naturerscheinungen orientieren bzw. mit sprachspiele­rischen Elementen der frühen Moderne und mit relativ konfliktfreien Inhalten der Nachkriegszeit aufwarten, während die unmittelbare Gegenwart der Kinder kaum vorkommt.

Die Säule Interpretation betrifft die Analyse lyrischer Texte. Hier braucht es literarisches Wissen, quasi ein poetologisches Rüstzeug, um Gedichten auf den Leib zu rücken. Wie weit findet eine Analyse lyrischer Texte im Unterricht statt und welche gattungsspezifischen Begriffe sollten Schülerinnen und Schüler kennen, um als „literarisch gebildet“ zu gelten? Ob dieses Arsenal an Begriffen über „Vers“ und „Strophe“ sowie einige Reimmuster hinausgehen soll, ist für die Grundschule mehr als fraglich. Auch ist durchaus die Gefahr gegeben, dass Texte im Unterricht zu Tode interpretiert werden können.

Auf die dritte Säule des Lyrikunterrichts, auf die Produktion, sei hier ein wenig näher eingegangen. Es geht dabei um die Frage, wie lyrische Texte weitergeschrieben werden bzw. Schülerinnen und Schüler eigene Gedichte verfassen können. Hier könnten zunächst Zweifel aufkommen: Ist so ein schulisches „Lyrik-Machen“ überhaupt möglich? Fallen denn Dichterinnen und Dichter in der Schulklasse so einfach vom Himmel? Mutet es nicht seltsam an, von Kindern etwas zu erwarten, was nach landläufiger Vorstellung ganz besondere Fähigkeiten, ja eine spezifische Begabung verlangt?

In meinem Beitrag „Gedanken zum Lyrikunterricht an der Grundschule“ in der jüngsten Ausgabe von „Erziehung und Unterricht“ (E&U 2016|7-8) zeige ich, dass es in der Tat didaktische Verfahren gibt, Schülerinnen und Schüler dazu zu bringen, lyrische Texte zu produzieren und dabei Spaß und Freude zu haben.


Ein Naturgedicht in Bildern

Ein solches Verfahren sei hier beispielhaft erklärt. Die Textbegegnung mit einem klassischen Gedicht wie Eduard Mörikes „Septembermorgen“ wird im Unterricht bewusst verlangsamt, der Text Vers für Vers dargeboten. An die Interaktive Tafel wird zunächst ein Bild projiziert, die Schülerinnen und Schüler sind aufgefordert, zu einem Gedicht mit dem Titel „Septembermorgen“, passend zum eingeblendeten Bild, einen ersten Vers zu formulieren. Erst im Anschluss daran wird der Originalvers Mörikes eingeblendet. Auf diese Weise entsteht schrittweise, unterstützt durch jeweils passende Bilder, an der Tafel das sechszeilige Naturgedicht Mörikes, daneben aber eine neue, persönliche und originelle, Version der ganzen Klasse. Erst am Schluss wird Mörikes Gedicht vollständig gezeigt und erst nach der intensiven Phase der Produktion auch der Interpretation und Analyse Raum gegeben.

Man hat es also mit drei Variationen eines Themas zu tun: mit dem Gedicht in Bildern (1), mit den originalen Versen Eduard Mörikes (2) und dem lyrischen Versuch einer Klasse (3) – im konkreten Fall einer Klasse von 10-jährigen Schülerinnen und Schülern an der  NMS 2 Schwaz in Tirol:

1 Gedicht in Bildern

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Fotos: http://bilder.tibs.at (Franz Riegler, Thomas Haidenberger, P. Zimmerer, Franz Haidenberger, Martin Schwarz, Franz Brugger)

2 Eduard Mörike
Septembermorgen
Im Nebel ruhet noch die Welt,
noch träumen Wald und Wiesen;
bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
den blauen Himmel unverstellt,
herbstkräftig die gedämpfte Welt
in warmem Golde fließen.

3 Schulklasse
Septembermorgen
Nebel legt sich übers Tal,
kaum ein Licht dringt in den Wald.
Die Sonne zeigt sich nur sehr fahl.
Bunte Blätter fallen
bald von den Bäumen.
Die Sonne hört nun auf zu träumen.

Wenn Schülerinnen und Schüler ihre Arbeit am Ende mit dem Klassiker vergleichen und dabei den eigenen Versen den Vorzug geben, so ist dies Ausdruck von Selbstvertrauen, aber durchaus auch Ausdruck einer gewissen dichterischen Qualität.

Das hier beispielhaft vorgeführte Arbeiten mit „Parallelgedichten“* stellt nur eine Möglichkeit dar, Kinder zu lyrischer Produktion herauszufordern, ohne sie dabei zu überfordern. Andere Wege führen über Gedichtformen wie Elfchen, Haikus oder Avenidas, die sich im Unterricht sehr gut einsetzen lassen. Diese, wie auch eine weitere lyrische Form, die Fatrasie, die als neu entdeckt gelten kann und im Unterricht noch wenig Verwendung findet, werden im oben genannten Artikel ausführlich besprochen und für den Literaturunterricht aufbereitet. Die eine oder andere Anregung wird vielleicht Lust machen, sich im eigenen Unterricht bewusst für die Literatur zu entscheiden und dabei Bewährtes wiederaufzunehmen oder Neues zu versuchen.

* Die SCHULE DES LESENS (www.tibs.at/schuledeslesens) unterstützt diese Art produktiven Literaturunterrichts durch kostenlose Unterrichtssoftware, mit der Gedichte zu unterschiedlichen Jahreszeiten an der Interaktiven Tafel präsentiert werden können.


Ein Schwerpunkt zur literarischen Bildung in „Erziehung und Unterricht“

2016_10_literatur_e_u_cover_280x400Im Oktober 2016 ist in der Zeitschrift „Erziehung und Unterricht“ (E&U 2016|7-8) ein umfangreicher Themenschwerpunkt „Literarische Bildung in der Primarstufe“ erschienen. Bewusst wollen die darin enthaltenen Artikel Perspek­tiven und Anregungen für die gelin­gen­de Praxis eines frühen Literaturunterrichts vermitteln, der eine frucht­bare Basis für den Literaturunterricht im weiteren Bildungs­weg und für eine lebens­lange positive Zugewandtheit zur Literatur zu legen vermag.

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Tags : Erziehung & UnterrichtLiteraturkundeLyrik