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„Lebensfreude entsteht im sozialen Kontext“

Lebensfreude entsteht im sozialen Kontext_Beitragsbild
Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler und Pädagogik-Professor

Spanisch lernen in der U-Bahn oder Mathematik verstehen auf der Couch? Lern-Apps machen das möglich und eröffnen eine zusätzliche Dimension des Lernens und Verstehens der Welt. Doch damit dieses Lernen wirksam und nachhaltig geschieht, gilt es einiges zu beachten, weiß Schulpädagoge Klaus Zierer.

*Im Jahr 2009 veröffentlichte der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie die Monografie »Visible Learning«. Dabei geht es um die übergeordnete Frage, welche Merkmale für das schulische Lernen besonders relevant sind.

 

Erst die Lehrperson macht Unterricht wirksam – das ist eine der zentralen Erkenntnisse der weltweit rezipierten Hattie-Studie *. Ist der Hype rund um Apps und digitale Anwendungen im Unterricht also tatsächlich nichts mehr als ein Hype, ein Strohfeuer ohne Wirkung? Ganz und gar nicht, befindet der deutsche Erziehungswissenschafter Klaus Zierer, der führende Hattie-Experte im deutschsprachigen Raum.

Er plädiert für einen nüchternen Zugang: „Blickt man auf die Schule, kann man sagen, dass digitale Medien guten Unterricht verbessern können, aber sie können schlechten Unterricht nicht zu einem guten machen.“

Unter dieser Voraussetzung sieht er Digitalisierung als wichtigen Baustein für die Zukunft der Bildung. Voraussetzung ist, dass die Apps von guter Qualität seien – auch wenn das nicht immer so leicht zu beurteilen sei. Was Zierer dafür vorschlägt? „Ein Prozedere – ähnlich wie bei Lehrbüchern.“

Das Miteinander entscheidet

Der erfolgreiche Einsatz von Apps bedarf laut Zierer einiger Voraussetzungen, zum Beispiel die Qualität der App oder die Persönlichkeitsstruktur des Anwenders: „Menschen lernen überall und jederzeit. Es stimmt prinzipiell schon, dass die Möglichkeiten heutzutage nahezu grenzenlos sind. Aber das fordert vom Einzelnen ein hohes Maß an Selbstständigkeit und Selbstreflexion.“ Die eigenen Lernprozesse selbstständig zu koordinieren sei das eine, der soziale Austausch das andere, denn dieser ist ausschlaggebend für Lernerfolg.

Vor allem im Bereich des Sprachlernens, wo Apps immer größere Beliebtheit erfahren, sei der soziale Austausch – das Miteinander reden – essenziell. Nicht nur, um die Sprache, sondern auch um die Kultur zu verstehen. „Wenn ich allein lerne, dann habe ich für eine gewisse Zeit durchaus Freude daran. Aber Lebensfreude entsteht vor allem im sozialen Kontext, im Miteinander.“

Die Sprachlern-App schafft eine wichtige Basis. Zierer verdeutlicht das am Erwerb des Vokabulars. Sie  zu lernen funktioniert mittels App ganz wunderbare, weil mithilfe des Algorithmus Ergebnisse aus der psychologischen Forschung, wie beispielsweise die Vergessenskurve, berücksichtigt werden können. Die App macht sich dieses Wissen zunutze und wiederholt Vokabeln sechs- bis achtmal.

Die richtige Dosis zur richtigen Zeit

Doch was bedeuten all diese Erkenntnisse für den Schulunterricht? „Es ist eine ähnliche Diskussion wie beim Taschenrechner. Zu früh im didaktischen Prozess eingeführt ist der Schaden größer als der Nutzen.“ Es sei wichtig, dass die Kinder erst das Kopfrechnen beherrschen, um später Rechnungen auszulagern und mehr Kapazität für das Lösen komplexer Aufgaben zu haben.

Grundsätzlich seien die meisten Schulbereiche digitalisierbar, einzig Debatten um gesellschaftliche Werte sollten im Gespräch zwischen Menschen stattfinden, findet der Experte. Denn hier kommt es auf Emotionen, Empathie und das gedankliche Durchdringen sowie das Verstehen der Gegenseite an.

Wird die App also bald schon den Unterricht ergänzen und bereichern? Zierer bremst die Euphorie. Der Einsatz digitaler Medien könne die Bildungsschere weiter auseinanderdriften lassen, befürchtet er.

 Falsche Perspektiven

Also muss die Digitalisierung in der Schule ankommen. Wie sieht dann die Klasse Zwanzig Zukunft aus? Klaus Zierer meint, auf den ersten Blick werde sich nicht viel verändern. Auf Bildern aus den Jahren 1900, 1980 oder 2010 steht jeweils eine Lehrperson an der Tafel und die Schüler*innen sitzen in Reihen. Doch vermittle das einen falschen Eindruck, denn das Entscheidende im Unterricht sei das, was von außen nicht sichtbar ist.

„Von außen kann man überhaupt nicht sagen, was in den Köpfen passiert. In der Schule der Zukunft sollten wir hochprofessionelle Lehrpersonen haben, die sich hinterfragen, Verantwortung übernehmen, gleichzeitig aber auch den Eltern ihre Verantwortung klar machen. Und – ganz wichtig – die in den Lernenden etwas sehen, was diese selbst noch nicht erkennen.“  Egal, ob digitaler Unterricht, Unterstützung durch Apps oder klassischer Frontalunterricht – für Zierer gilt: „Der pädagogische Glaube daran, dass etwas wachsen und besser werden kann, ist das, was Kinder und Jugendliche heute brauchen. Dann wird die Schule zu einem Ort, der Freude bereitet.“


Dieser Artikel ist für das Magazin klassezwanzigzukunft im Rahmen des Jubiläums „250 Jahre öbv“ entstanden.

 

Tags : #klassezwanzigzukunft250 Jahre öbv