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Kinder forschen! – Geht das?

Ist Forschen nur etwas für Erwachsene?  Im Rahmen der Debatte um Schulentwicklung hört man vermehrt von Forderungen nach einer forschenden Ausrichtung des Unterrichts. Schülerinnen und Schüler sollen Unterrichtsinhalte mitbestimmen können.

Das persönliche Interesse und die selbstbestimmte Auseinandersetzung mit Inhalten stehen dabei im Vordergrund. Die Lernenden werden von Lehrenden durch aktive Einbindung und kompetente Begleitung motiviert, ihren persönlichen Lernweg zu finden. Der Lernprozess wird so zur Entdeckungsreise – zum forschenden Prozess.

Gibt es diese Form des forschenden Lernens wirklich? Können sich Schülerinnen und Schüler tatsächlich selbstständig mit komplexen Fragestellungen auseinandersetzen? Und welche Kriterien sind in einem forschungsorientierten Unterricht zu beachten, damit sich der erhoffte Erfolg tatsächlich einstellt?

Lernen durch Forschen beginnt schon im frühen Alter!

Der Blick auf die aktuelle pädagogische Literatur wie auch auf Forschungsergebnisse der Unterrichtswissenschaft zeigt, dass Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen tatsächlich enormes selbstständiges Handlungspotential entwickeln können (vgl. Messner, 2009). Voraussetzungen für gelingendes forschendes Lernen sind, dass von den Lernenden persönlich bedeutungsvolle Fragestellungen behandelt werden dürfen und Lehrerinnen und Lehrer bereit sind, sich auf Unterricht mit hohem Unbestimmbarkeitsgrad einzulassen.

Eine spezielle pädagogische Theorie – die Theorie der Forschenden Lernarrangements nach Reitinger (2013) – verweist auf insgesamt sechs Kriterien, die forschendes Lernen beschreiben und die im forschungsorientierten Unterricht mit Unterstützung der Lehrerinnen und Lehrer zur Entfaltung gebracht werden sollten. Diese Kriterien sind:

Neugierde (Entdeckungsinteresse): Forschendes Lernen basiert auf Neugierde. Ein sinnvoll empfundener Lernverlauf wird daher nur dann zu erreichen sein, wenn von Beginn an ein Entdeckungsinteresse vorhanden ist.

Bereitschaft zum forschenden Lernen (Methodenaffirmation): Einen Sachverhalt auf eine Art und Weise selbstbestimmt zu entdecken, kann eigentlich nicht befohlen werden, da dies der Authentizität des Lernprozesses widerspricht. Forschendes Lernen wird daher nur dann zu einem erfolgreich empfundenen Prozess werden, wenn die Lernenden auch wirklich forschend lernen wollen.

Vermuten (erfahrungsbasiertes Hypothetisieren): Vermuten ist Teil des forschungsorientierten Prozesses. Durch gezieltes Bilden von Hypothesen bettet sich die situative forschende Lernerfahrung, vernetzt mit dem eigenen Vorwissen und subjektiven Konzepten, in das persönliche Lernkontinuum ein.

Untersuchen (authentisches Explorieren): Im forschenden Lernen wird das Finden gangbarer Explorationen von den Lernenden selbst gesteuert und von der Lehrperson individuell und nach Bedarf unterstützt. Aus Sicht der Autonomieforschung erscheint es hierbei als bedeutend, dass die Lehrperson aus einer vertrauens- und verständnisvollen Grundhaltung heraus das autonome Handeln der Lernenden durch Interessensweckung, Handlungsflexibilisierung und Anliegenorientierung unterstützt (vgl. Deci & Ryan, 2004; Seyfried, 2002).

Miteinander reden (kritischer Diskurs): Der gemeinsame Diskurs in Form einer Reflexion der Lernergebnisse, des Lernprozesses und der entstandenen persönlichen Bedeutungskontexte ist ein wichtiges Merkmal selbstbestimmungsorientierten, forschenden Lernens.

Etwas aus dem Entdeckten machen (conclusiobasierter Transfer): Entdecktes zu kommunizieren und anzuwenden ist in authentischen Forschungsprozessen ein natürlicher Handlungsprozess, der oft aus der persönlichen Wertzuschreibung hinsichtlich des erlebten Lernprozesses heraus von selbst entsteht und so zu einem Bedürfnis der Lernenden wird.

Das oberste Ziel eines forschungsorientierten Unterrichts im Verständnis der oben angeführten Theorie ist also die Entfaltung der hier angeführten Kriterien des forschenden Lernens.

Ein Praxisbeispiel für forschendes Lernen

Markus wollte wissen, ob man einen Elektromotor aus Alltagsartikeln basteln kann (Entdeckungsinteresse). Hierzu holte er sich bei seiner Lehrerin und aus dem Internet erste relevante Informationen. Markus und sein Freund beschlossen, einen solchen Motor selbst zu entwerfen (Methodenaffirmation). Gemeinsam entwickelten sie einen Prototyp (authentisches Explorieren). Die Lehrerin stand dem jungen Entwicklerteam dabei mit Rat zur Seite. Die Idee, den Motor mit einem senkrecht gelagerten Rotor zu bauen, stammte von Markus selbst (erfahrungsbasiertes Hypothetisieren). Der Elektromotor aus Alltagsartikeln, der auf diese Weise im forschungsorientierten Physikunterricht entstanden ist, bestand den Funktionstest. Markus besprach gemeinsam mit seinem Forschungspartner und einigen Mitschülerinnen und Mitschülern, wie er seine Forschungsfrage schließlich verwirklichen konnte (kritischer Diskurs). Markus und sein Freund haben daraufhin eine Idee entwickelt, wie man diesen Motor hinsichtlich Stabilität und Laufruhe weiterentwickeln könnte (conclusiobasierter Transfer).

Eine Möglichkeit der Umsetzung forschenden Lernens: Kriterienbasierte Aufgaben

Pädagoginnen und Pädagogen zeigen oft großes Interesse an forschendem Lernen. Zugleich äußern sie auch das berechtigte Bedürfnis nach Unterstützung, wie denn solches Lernen erfolgreich in den eigenen Unterricht integriert werden kann.

Dem Autorenteam der öbv-Schulbuchreihe Impuls Physik und Impuls Chemie war es deshalb ein Anliegen, strukturierte, praxistaugliche Unterrichtsmaterialien in Form autonomieunterstützender Aufgaben zum forschenden Lernen in die seit 2015 erhältliche Neubearbeitung einzubinden. Solche Aufgaben sollten so aufbereitet sein, dass sie die Entfaltung der weiter oben beschriebenen Kriterien forschenden Lernens möglichst weitreichend unterstützen.

„Obwohl in vorstrukturierten Unterrichtsmaterialien die Anliegen der Lernenden nie punktgenau getroffen werden können und auch eine personalisierte Anknüpfung an individuell vorhandenes Vorwissen nicht gewährleistet werden kann, ergibt sich durch die flexible Kriterienorientierung dennoch die Möglichkeit einer noch weiteren Öffnung des Unterrichtsmaterials.“ (Reitinger 2013, S. 127)

“Erforsche Selbst„- Beispielseiten aus Impuls Physik 1+2

Das in die aktuelle öbv-Schulbuchreihe Impuls Physik und Impuls Chemie aufgenommene Aufgabenformat „Erforsche selbst“ soll diesen Ansprüchen gerecht werden. Jedes Kapitel der Bücher Impuls Physik 2, Impuls Physik 3, Impuls Physik 4 und Impuls Chemie 4 wird mit einer „Erforsche selbst“-Aufgabe beendet. Insgesamt stellt diese Schulbuchreihe 41 Aufgaben zur interessenbasierten und autonomen Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen zur Verfügung. Die Aufgaben sind so strukturiert, dass die weiter oben angeführten Kriterien angesprochen und in ihrer Entfaltung unterstützt werden:

Kriterienbasierte Aufgaben sollten mit dem Anspruch bearbeitet werden, dass möglichst viele Kriterien möglichst weitreichend eine Entfaltung erfahren können. Inwieweit dies tatsächlich gelingt, ist durch das Material aber nie gänzlich vorherbestimmbar. Es besteht also weder der Anspruch, dass im Rahmen des Aufgabenformats immer alle Kriterien der Reihe nach und vollständig berücksichtigt werden müssten, noch dass diese dabei konsequent in einem Maximum zur Entfaltung kommen sollten. Der Weg ist das Ziel.

“Erforsche Selbst„- Beispielseiten aus Impuls Physik 4 & Impuls Chemie 4
Literatur:

Deci, E. L. & Ryan, R. M. (Hrsg.) (2004). Handbook of Self-determination Research. Rochester: University of Rochester Press.
Messner, R. (Hrsg.) (2009). Schule forscht. Ansätze und Methoden zum forschenden Lernen. Hamburg: Körber Stiftung.
Reitinger, J. (2013). Forschendes Lernen. Theorie, Evaluation und Praxis in naturwissenschaftlichen Lernarrangements. Immenhausen bei Kassel: Prolog.
Seyfried, C. (2002). Unterricht als Moderation von Anliegen. Atelier Schule, 17, S. 19–23.


Über den Autor

Johannes Reitinger ist Hochschulprofessor für Schulpädagogik und empirische pädagogische Forschung an der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz; Habilitation im Fachbereich Schulpädagogik; Privatdozent an der Universität Kassel; ehemals Lehrer an einer österreichischen Hauptschule für die Fächer Mathematik, Physik, Chemie, Informatik und Religion.