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Der ästhetische Mehrwert literarischer Texte

„lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne: sie sind genauer.“ Mehr und mehr scheint sich die Schule von heute an Hans Magnus Enzensbergers provokanter Gedichtzeile zu orientieren. Gelesen wird vor allem, was vordergründig nützlich ist: Gebrauchs- und Informationstexte. Literarische Texte bleiben demgegenüber auf der Strecke – in den unteren Schulstufen allemal. Verloren geht dabei, was man als ästhetischen Mehrwert von Literatur bezeichnet hat. Ein Plädoyer für den (frühen) Literaturunterricht von Reinhold Embacher.

Seit PISA wissen wir: Der Tschadsee ist etwa zwei Meter tief, erreichte vor 6000 Jahren seine größte Ausdehnung und wurde bis vor 2500 Jahren auch von Elefanten aufgesucht. Zumindest sollten das die 15-Jährigen der österreichischen Schulen des Jahrgangs 2000 wissen bzw. herausfinden, da sie beim ersten PISA-Test eine Leseaufgabe über den Tschadsee zu lösen hatten. Die zu lesende Textmenge hielt sich stark in Grenzen, dafür gab es zwei Diagramme zu deuten und Antworten zu finden, die nirgends explizit standen. So also konnten Leseaufgaben AUCH aussehen. Manche hätten sie damals eher dem Bereich Mathematik zugeordnet.

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Quelle: OECD, Sammlung freigegebener PISA-Aufgaben – Lesekompetenz

Lesen in allen Fächern?

Jedenfalls wurde reagiert: Sach- und Gebrauchstexte seien zu forcieren, war man überzeugt, aber weil die Forderung nach dem Prinzip „Lesen in allen Fächern“ (gemeint ist dabei vor allem die Auseinandersetzung mit Lesestrategien) mehr oder weniger bis heute zwar gehört, aber nicht recht umgesetzt wird, blieb alles mehr beim Alten und somit am Fach Deutsch hängen. Wie Fahrpläne durchschaut, Klimadiagramme interpretiert oder Ernährungspyramiden erklommen werden, wird in der Regel im Deutschunterricht vermittelt. Freilich wären der Sachunterricht oder die Realienfächer der ideale Ort, sich mit Sachtexten und Strategien zu beschäftigen, nur fehlt dort dazu leider die Zeit.

Bleibt die Literatur auf der Strecke?

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Foto: Thinkstock

Vielleicht war es eine Folge der allgemeinen Orientierung hin zu informatorischen Texten, jedenfalls wurde die Zuständigkeit des Faches Deutsch für Sachtexte aller Art durch die Einführung der Bildungsstandards (2009) durchaus bestätigt und verstärkt. Viele Kompetenzen, besonders in der Sekundarstufe, zielen auf den Umgang mit Sachtexten ab. Da ist die Rede von der Kompetenz, Textsignale wie Zwischenüberschriften oder Gliederungszeichen für das Textverständnis zu nutzen, Grafiken, Tabellen, Schaubilder etc. zu lesen oder (elektronische) Nachschlagewerke bei der Recherche einzusetzen. Die Bedeutung all dieser Kompetenzen soll nicht angezweifelt werden. DENNOCH: Nur 2 von 14 Kompetenzforderungen zu den Lesestandards D8 beziehen sich exklusiv auf das literarische Lesen, nämlich

Schüler/innen können …

Läuft die Literatur so Gefahr, zu kurz zu kommen? Ein Blick in die Oberstufe scheint diese Befürchtung zu bestätigen. „Die IG Autoren und Lehrervertreter beklagen die geringer werdende Bedeutung von Literatur im Deutschunterricht und bei der neuen Zentralmatura.“ (Kurier, 1.10.2014) Die Bandbreite dessen, was alles im Fach Deutsch abgebildet werden soll, ist groß. Die Entscheidung, ein Gedicht zu erschließen, eine Kurzgeschichte zu lesen oder gar einen Roman, ist eine bewusst getroffene. Zwingend ist sie, zumindest in den unteren Klassen, nicht.

Der „Mehrwert“ von Literatur

Dabei haben literarische Texte einen Mehrwert, den Ortwin Beisbart und Dieter Marenbach als einen ästhetischen bezeichnen. Das Essentielle literarischer Texte liege in ihrer sprachlichen Struktur. Ziel des Literaturunterrichts müsse es sein, epische, lyrische und dramatische Textsorten und deren spezifische Merkmale bewusst zu machen.


Ein Schwerpunkt zur literarischen Bildung in „Erziehung und Unterricht“

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Im Oktober 2016 erscheint in der Zeitschrift „Erziehung und Unterricht“ (E&U 2016|7-8) ein umfangreicher Themenschwerpunkt  „Literarische Bildung in der Primarstufe“. Bewusst wollen  die darin enthaltenen Artikel Perspek­tiven und Anregungen für die gelin­gen­de Praxis eines frühen Literaturunterrichts vermitteln, der eine frucht­bare Basis für den Literaturunterricht im weiteren Bildungs­weg und für eine lebens­lange positive Zugewandtheit zur Literatur zu legen vermag.

Nach einem grundlegenden Artikel zur literarischen Bildung von Kaspar H. Spinner geht es um Betrachtungen und Praxisbeispiele aus der Lyrik, der Epik und der dramatischen Dichtung. Den Abschluss bildet eine Reihe von Artikeln zum literarischen Lernen im Allgemeinen und zur Beziehung literarischen Lernens zu den Bildungsstandards und zum Lehrplan.

>> Zum Inhaltsverzeichnis Erziehung & Unterricht, Ausgabe 2016|7-8